Der utopische Entwurf einer besseren Welt
Nathan
kann als ausgeführter Entwurf einer von der Vorsehung geordneten Welt gelten.
Die Diskrepanz zwischen historischer Wirklichkeit und geschichtsphilosophischem
Ziel zu überwinden ist die Aufgabe des Menschen. [...] Ziel ist es, die
Menschheit trotz aller Spaltungen zu jener Toleranz zu erziehen, die das Glück
der menschheitlichen Familie am Schluss des Nathan begründet.
Im Modell dieser Familie ist zugleich der sozialethische
Gehalt der Utopie inbegriffen; erkennbar wird auch seine Herkunft aus der
Tradition der christlichen Sozialvorstellungen, in deren Zentrum die Familie
steht. [...] Der betont symbolische Charakter der "stummen Wiederholung
allseitiger Umarmungen", in die der Verständigungsdialog mündet, verlangt
die Deutung des Nathan nicht als eines bürgerlichen Familien- und Rührstücks,
sondern als dezidierter Dramatisierung des geschichtsphilosophischen Entwurfs.
Aus Bildern und Begriffen seiner Zeit schuf Lessing ein utopisches Zeichen für
die geschichtliche Bestimmung des Menschen: die Vollendung der Schöpfung als
Einheit des sittlich vollkommenen Individuums mit der Gemeinschaft. Der
Nathan erscheint aufgrund der leiblichen und geistigen Verwandtschaftsbeziehungen
über die Schranken von Religion und Stand hinweg als Andeutung des
Zeitalters des Dritten Evangeliums, wie es in der Erziehung des
Menschengeschlechts verheißen ist.
(aus: Barner u.a.
1987, S.318)
Die Menschheit als große Familie
Lessing wendet im fünften
Aufzug die dramatische Handlung zum parabolischen oder symbolischen Tableau.
[...] Die Spannung des »dramatischen Gedichts« fällt allmählich ab und alle
Handlungsstränge laufen zusammen und gipfeln in der großen Erkennungs- und
Familienszene im Palast Saladins. [...]
Zunächst ist zu betonen, dass das
Familienbild weder soziologisch als Spiegelbild der Familie im Aufklärungszeitalter
verstanden werden darf, noch ist das Ende im Sinne der modernen Komödie ein
Happy-End. [...]
Die Szene bleibt unverständlich ohne Entschlüsselung ihrer
Symbolik: Der erste Ansatz wäre der Gedanke, dass alle Menschen von Natur
verwandt, Brüder sind. Zu erinnern wäre an die im Pietismus wurzelnde und im
erstarkenden Bürgertum kursierende Formel von der Bruderschaft, Brüderlichkeit
und der brüderlichen Menschheit [...]
Die Menschheit als große Familie - die
Natur, der die Menschen sich entfremdet, indem sie ein alle verwandten Glieder
trennendes System entwickelt haben, scheint wieder in ihre ursprünglichen
Rechte eingesetzt zu sein; aber man darf dabei den wichtigsten Gedanken nicht
übersehen: Das »gute« Ende des »dramatischen Gedichts« ist das Werk der
Vernunft.
(aus: Dieter Arendt
1984, S.46f.)
Wie zwei begossene Pudel
Das Nathan-Drama
findet seinen Schlusspunkt in einem familiären Wiedererkennen, ganz im Sinne
und im Stil der zeitüblichen rührenden Familienstücke. In der Idylle der
Familie spiegelt sich die Utopie des Heilen und Heilgebliebenen, die Utopie
bekommt die Richtung einer Regression ins Bescheiden-Häusliche. [...] Am Ende
stehen Recha und der Tempelherr wie zwei begossene Pudel da - so fasst W.-H.
Friedrich* die Kritik zusammen. Die Erfüllung ihrer Liebe wird Recha und dem
Tempelherrn vorenthalten, sie sind »nur« Bruder und Schwester. Nun weist
allerdings Friedrich darauf hin, dass diese Enttäuschung nur der unaufmerksame
Leser bzw. Zuschauer empfinden könne, in Wirklichkeit sei genau diese Lösung
vom Autor vorbereitet worden: Rechas Schwärmerei für ihren Retter sei nicht in
Liebe zu ihm verwandelt worden; vielmehr trat nach der Begegnung mit ihm an die
Stelle von Sturm in (meinem) Herzen eine seltsame Stille, nicht Leidenschaft
ist entfacht, sondern gleichsam geschwisterliche Vertrautheit geweckt (III,3)
[...] Trotz dieser geschickt verborgenen psychologischen Vorarbeit Lessings
evoziert die Wiedererkennungsszene beim Betrachter ein Gefühl des Mangels: zwar
stehen Recha und ihr Retter nicht wie begossene Pudel da, aber dem Betrachter
fehlt doch die freudige Begeisterung, die ein verliebtes Paar in so ein
Schlusstableau hineingebracht hätte.
* Wolf-Hartmut Friedrich,
Menander redivivus. Zur Wiedererkennung im Nathan, in: Euphorion, Zeitschrift
für Literaturgeschichte, Bd. 64, S,167-180
(aus: Wolfgang
Kröger 1980, S.56 f.)
Darstellung der Kommunikation schlechthin
Im letzten Akt konvergieren
die verschiedenen Handlungsstränge. Die dramatische Spannung fällt hier
merklich ab. Im großen Tableau
der Schlussszene werden die natürlichen Beziehungen, die
Verwandtschaftsverhältnisse offenbar [...]. Dennoch verwirklicht sich die soziale
Harmonie nicht ungetrübt; die Schlussszene ist kein Genrebild im Stile einer
biedermeierlichen Familienidylle, Sie rührt zwar, aber sie erzeugt keine
Rührseligkeit. Bei aller emotionalen Teilhabe wird der Leser / Zuschauer nicht
vergessen, dass die Wiedererkennung der Liebenden als Geschwister auch mit Entsagung
und Verlust verbunden ist. »Die Liebe, die Recha von Anfang an für den
Tempelherrn empfindet und die nach hartnäckiger Weigerung auf Seiten des
Tempelherrn plötzlich auch bei ihm für Recha entflammt, wird am Ende im geschwisterlichen
Zusammengehörigkeitsgefühl aufgehoben (zumal sie unter dem Inzestverbot steht),
aber bedeutet praktisch umfassenden Triebverzicht, Verzicht auf das
individuelle Glück partnerschaftlicher Liebeserfüllung. Das bleibt ein
Irritationsmoment, das auf das harmonische Familientableau des Endes einen
Schatten wirft.« (Durzak 1985,
S.127) Die Reaktion des Tempelherrn scheint daher, wenn man sich an sein voraufgegangenes
emphatisches Werben um Recha zurückerinnert, fast ein wenig aufgesetzt.
Noch in
anderer Hinsicht wird dem Leser eine Erkenntnisleistung abverlangt, deren
Bewältigung ein Abgleiten seiner Gefühle in pure Rührseligkeit verhindert.
Nathan ist der einzige in dem Tableau, der aus dem umfassenden
blutsverwandtschaftlichen Zusammenhang ausgeschlossen bleibt. Der Familie fehlt
der natürliche Vater; ihr eigentlicher, ihr spiritueller Vater ist Nathan
geworden. [...] Seine Vaterschaft ist keine zufällige Gegebenheit, sondern er
dankt sie, wie er eingangs formuliert, der Tugend. Das, was die natürliche
Blutsverwandtschaft noch nicht gewährt, den Anspruch auf Zuneigung, kann die
Adoptivvaterschaft durch eine vernünftige Erziehung begründen, durch eine
Ausbildung, die zur Mündigkeit des Selbst führt.
Genauso wie die
Ringparabel den engen Horizont des Sultans transzendiert und das Problem der
religiösen Wahrheit in dem Postulat nach humaner Toleranz aufgehen lässt,
gewinnt die familiäre Wiedererkennungsszene am Ende eine allgemein menschliche
Transparenz. Das Tableau ist parabolisch zu verstehen. Es transponiert den Rat
des Richters auf eine sinnlich-konkrete Ebene. Die Szene wird so zum Vorschein
für die Möglichkeit menschlicher Kommunikation schlechthin, die sich aus den Fesseln
der Rolle, des Standes und der Religion, überhaupt des Vorurteils befreit hat.
[...] Im Familienbild finden sich Menschen als Menschen wieder.
(aus: Peter Bekes 1988,
S. 40f.)