Freitag, 21. Oktober 2016

Ein paar Auszüge von literaturwissenschaftlichen Aufsätzen zu ›Nathan der Weise‹

Der utopische Entwurf einer besseren Welt
Nathan kann als ausgeführter Entwurf einer von der Vorsehung geordneten Welt gelten. Die Diskrepanz zwischen historischer Wirklichkeit und geschichtsphilosophischem Ziel zu überwinden ist die Aufgabe des Menschen. [...] Ziel ist es, die Menschheit trotz aller Spaltungen zu jener Toleranz zu erziehen, die das Glück der menschheitlichen Familie am Schluss des Nathan begründet.
Im Modell dieser Familie ist zugleich der sozialethische Gehalt der Utopie inbegriffen; erkennbar wird auch seine Herkunft aus der Tradition der christlichen Sozialvorstellungen, in deren Zentrum die Familie steht. [...] Der betont symbolische Charakter der "stummen Wiederholung allseitiger Umarmungen", in die der Verständigungsdialog mündet, verlangt die Deutung des Nathan nicht als eines bürgerlichen Familien- und Rührstücks, sondern als dezidierter Dramatisierung des geschichtsphilosophischen Entwurfs. Aus Bildern und Begriffen seiner Zeit schuf Lessing ein utopisches Zeichen für die geschichtliche Bestimmung des Menschen: die Vollendung der Schöpfung als Einheit des sittlich vollkommenen Individuums mit der Gemeinschaft.  Der Nathan erscheint aufgrund der leiblichen und geistigen Verwandtschaftsbeziehungen über die Schranken von Religion und Stand hinweg als Andeutung  des Zeitalters des Dritten Evangeliums, wie es in der Erziehung des Menschengeschlechts verheißen ist.
(aus: Barner u.a. 1987, S.318)
 

Die Menschheit als große Familie
Lessing wendet im fünften Aufzug die dramatische Handlung zum parabolischen oder symbolischen Tableau. [...] Die Spannung des »dramatischen Gedichts« fällt allmählich ab und alle Handlungsstränge laufen zusammen und gipfeln in der großen Erkennungs- und Familienszene im Palast Saladins. [...]
 Zunächst ist zu betonen, dass das Familienbild weder soziologisch als Spiegelbild der Familie im Aufklärungszeitalter verstanden werden darf, noch ist das Ende im Sinne der modernen Komödie ein Happy-End. [...]
Die Szene bleibt unverständlich ohne Entschlüsselung ihrer Symbolik: Der erste Ansatz wäre der Gedanke, dass alle Menschen von Natur verwandt, Brüder sind. Zu erinnern wäre an die im Pietismus wurzelnde und im erstarkenden Bürgertum kursierende Formel von der Bruderschaft, Brüderlichkeit und der brüderlichen Menschheit [...]
Die Menschheit als große Familie - die Natur, der die Menschen sich entfremdet, indem sie ein alle verwandten Glieder trennendes System entwickelt haben, scheint wieder in ihre ursprünglichen Rechte eingesetzt zu sein; aber man darf dabei den wichtigsten Gedanken nicht übersehen: Das »gute« Ende des »dramatischen Gedichts« ist das Werk der Vernunft.
(aus: Dieter Arendt 1984, S.46f.)
 
Wie zwei begossene Pudel
Das Nathan-Drama findet seinen Schlusspunkt in einem familiären Wiedererkennen, ganz im Sinne und im Stil der zeitüblichen rührenden Familienstücke. In der Idylle der Familie spiegelt sich die Utopie des Heilen und Heilgebliebenen, die Utopie bekommt die Richtung einer Regression ins Bescheiden-Häusliche. [...] Am Ende stehen Recha und der Tempelherr wie zwei begossene Pudel da - so fasst W.-H. Friedrich* die Kritik zusammen. Die Erfüllung ihrer Liebe wird Recha und dem Tempelherrn vorenthalten, sie sind »nur« Bruder und Schwester. Nun weist allerdings Friedrich darauf hin, dass diese Enttäuschung nur der unaufmerksame Leser bzw. Zuschauer empfinden könne, in Wirklichkeit sei genau diese Lösung vom Autor vorbereitet worden: Rechas Schwärmerei für ihren Retter sei nicht in Liebe zu ihm verwandelt worden; vielmehr trat nach der Begegnung mit ihm an die Stelle von Sturm in (meinem) Herzen eine seltsame Stille, nicht Leidenschaft ist entfacht, sondern gleichsam geschwisterliche Vertrautheit geweckt (III,3) [...] Trotz dieser geschickt verborgenen psychologischen Vorarbeit Lessings evoziert die Wiedererkennungsszene beim Betrachter ein Gefühl des Mangels: zwar stehen Recha und ihr Retter nicht wie begossene Pudel da, aber dem Betrachter fehlt doch die freudige Begeisterung, die ein verliebtes Paar in so ein Schlusstableau hineingebracht hätte.
* Wolf-Hartmut Friedrich, Menander redivivus. Zur Wiedererkennung im Nathan, in: Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte, Bd. 64, S,167-180
(aus: Wolfgang Kröger 1980, S.56 f.)


Darstellung der Kommunikation schlechthin
Im letzten Akt konvergieren die verschiedenen Handlungsstränge. Die dramatische Spannung fällt hier merklich ab. Im großen Tableau der Schlussszene werden die natürlichen Beziehungen, die Verwandtschaftsverhältnisse offenbar [...]. Dennoch verwirklicht sich die soziale Harmonie nicht ungetrübt; die Schlussszene ist kein Genrebild im Stile einer biedermeierlichen Familienidylle, Sie rührt zwar, aber sie erzeugt keine Rührseligkeit. Bei aller emotionalen Teilhabe wird der Leser / Zuschauer nicht vergessen, dass die Wiedererkennung der Liebenden als Geschwister auch mit Entsagung und Verlust verbunden ist. »Die Liebe, die Recha von Anfang an für den Tempelherrn empfindet und die nach hartnäckiger Weigerung auf Seiten des Tempelherrn plötzlich auch bei ihm für Recha entflammt, wird am Ende im geschwisterlichen Zusammengehörigkeitsgefühl aufgehoben (zumal sie unter dem Inzestverbot steht), aber bedeutet praktisch umfassenden Triebverzicht, Verzicht auf das individuelle Glück partnerschaftlicher Liebeserfüllung. Das bleibt ein Irritationsmoment, das auf das harmonische Familientableau des Endes einen Schatten wirft.« (Durzak 1985, S.127) Die Reaktion des Tempelherrn scheint daher, wenn man sich an sein voraufgegangenes emphatisches Werben um Recha zurückerinnert, fast ein wenig aufgesetzt.
Noch in anderer Hinsicht wird dem Leser eine Erkenntnisleistung abverlangt, deren Bewältigung ein Abgleiten seiner Gefühle in pure Rührseligkeit verhindert. Nathan ist der einzige in dem Tableau, der aus dem umfassenden blutsverwandtschaftlichen Zusammenhang ausgeschlossen bleibt. Der Familie fehlt der natürliche Vater; ihr eigentlicher, ihr spiritueller Vater ist Nathan geworden. [...] Seine Vaterschaft ist keine zufällige Gegebenheit, sondern er dankt sie, wie er eingangs formuliert, der Tugend. Das, was die natürliche Blutsverwandtschaft noch nicht gewährt, den Anspruch auf Zuneigung, kann die Adoptivvaterschaft durch eine vernünftige Erziehung begründen, durch eine Ausbildung, die zur Mündigkeit des Selbst führt. 
Genauso wie die Ringparabel den engen Horizont des Sultans transzendiert und das Problem der religiösen Wahrheit in dem Postulat nach humaner Toleranz aufgehen lässt, gewinnt die familiäre Wiedererkennungsszene am Ende eine allgemein menschliche Transparenz. Das Tableau ist parabolisch zu verstehen. Es transponiert den Rat des Richters auf eine sinnlich-konkrete Ebene. Die Szene wird so zum Vorschein für die Möglichkeit menschlicher Kommunikation schlechthin, die sich aus den Fesseln der Rolle, des Standes und der Religion, überhaupt des Vorurteils befreit hat. [...] Im Familienbild finden sich Menschen als Menschen wieder.
(aus: Peter Bekes 1988, S. 40f.)
 


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